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Klicken Sie hier für weitere Informationen über Louis Raemaekers in Kontext-Wochenzeitung, Ausg. 211 15-4-2015.

Louis Raemaekers: Der große kleine Mann aus Roermond
Louis Raemaekers, der im Jahr 1869 in der kleinen niederländischen Provinzstadt Roermond geboren wurde, ist mit seinen scharfen politischen Zeichnungen weltberühmt geworden, und hier besonders mit den Zeichnungen, die er während des Ersten Weltkriegs angefertigt hat. Bei seinem Tod im Jahr 1956 ist sogar geschrieben worden, dass er mit diesen Zeichnungen das Schicksal der Menschheit während des Kriegs und danach mit bestimmt habe. Wie konnte dieser eher kleine Mann (er maß gut 1,70 Meter) so groß werden? Was trieb ihn an?

Um diesen faszinierenden Zeichner verstehen zu lernen, müssen wir in seine Jugendjahre in Roermond zurückgehen. Die Stadt, nur fünf Kilometer von der deutschen und gut zwanzig Kilometer von der belgischen Grenze entfernt, hatte im Jahr seiner Geburt kaum 10.000 Einwohner. Roermond liegt ungefähr auf der gleichen Höhe wie das sechzig Kilometer weiter östlich gelegene Düsseldorf. Bei der Geburt von Louis war es genau dreißig Jahre her, dass das seit 1815 bestehende Vereinigte Königreich der Niederlande in die nördlichen Niederlande und das südliche Belgien aufgeteilt wurde. Jahrhundertelang war Roermond von Brüssel aus regiert worden, war die Stadt Bestandteil der südlichen Niederlande – im Großen und Ganzen das heutige Belgien – gewesen und hatte sie unter spanischer, später unter österreichischer und noch wieder später unter französischer Verwaltung gestanden. Die Mutter von Louis war eine aus Aachen stammende Deutsche. Sein Geburtsort und seine Herkunft machten aus Louis eher einen Westeuropäer als einen Niederländer. Charakteristisch für Raemaekers‘ westeuropäische Identität war seine in Wort und Schrift perfekte Beherrschung der deutschen, englischen und französischen Sprache.

Mögen diese Herkunftsdaten auch die Leichtigkeit erklären, mit der Raemaekers sich später als Erwachsener in einer internationalen Umgebung behaupten konnte, so ist damit doch noch nichts über die Schärfe seiner Motive gesagt. Und natürlich gibt es da auch noch eine zweite Frage: Warum wurde er so ausgesprochen antideutsch?

Um eine Antwort auf die erste Frage nach Louis‘ vehementem und streitbarem Auftreten geben zu können, muss hier kurz die gesellschaftliche und religiöse Struktur seines Geburtsortes geschildert werden. Roermond ist seit jeher eine urkatholische Festung gewesen. Erst die Französische Revolution, die Roermond schon im Jahr 1794 erreichte, bereitete der Machtposition der Kirche ein Ende. Nach dem Abzug der Franzosen blieb die von ihnen geschaffene gesellschaftliche Ordnung erhalten. Roermond war durch ihren Einfluss zu einer liberalen Stadt geworden. Mit der Zeit begann die katholische Kirche sich gegen die liberalen Errungenschaften der Französischen Revolution zu wehren. Das bedeutete einen erneuten Kampf, um die althergebrachte beherrschende Position zurückzuerlangen. Im Jahr 1840 wurde Roermond zum zweiten Mal Bischofssitz, nun unter der Leitung von Bischof Paredis. Dessen Bistum umfasste die gesamte niederländische Provinz Limburg. Die Einwohner waren fast alle katholisch – schätzungsweise 95% der Bevölkerung. Von der Kanzel und in seinen Zeitungen agierte Paredis unversöhnlich gegen jede Form von Liberalismus, was unter der Bevölkerung zu einer tiefen Spaltung führte: Auf der einen Seite ein klerikal-katholisches Lager, das getreu dem Wort von Bischof und Papst folgte; auf der anderen Seite ein liberales Lager, das sich die erworbenen Freiheiten nicht mehr fortnehmen lassen mochte. Diese Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Klerikalen wurde in Roermond mehrere Jahre hintereinander in großer Heftigkeit geführt. In Roermond ist dieser „Krieg“ in unvorstellbarer Weise aufgebauscht worden. Es ging letztlich um die notwendige Trennung von Kirche und Staat, die heutzutage in unserer westeuropäischen Welt eine Selbstverständlichkeit ist.

Es gibt in den Niederlanden wenige Orte, an denen im neunzehnten Jahrhundert ein Stadtkrieg gleichen Umfangs ausgetragen worden ist, und eine Hauptrolle in diesem Stadtkrieg spielte Louis‘ Vater. Dieser Vater, Jos Raemaekers, besaß ein Geschäft und eine Druckerei. In dieser Druckerei wurde die örtliche liberale Zeitung De Volksvriend (Der Volksfreund) gedruckt. Vater Raemaekers schrieb in diesem Blatt und war später auch dessen Eigentümer und verantwortlicher Redakteur. De Volksvriend war in mancher Hinsicht modern, propagierte beispielsweise die völlige Gleichberechtigung der Juden und agierte gegen sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Vor allem aber bekämpfte Jos Raemaekers mit großem Einsatz und großer Schärfe die Machtposition der Kirche. So, wie er gegen Missstände in der Kirche und in der inzwischen überwiegend klerikal gewordenen Limburger und vor allem Roermonder Gesellschaft protestierte, wurde er selbst von der anderen Seite, vom Bischof bedrängt, der in seiner klerikalen Zeitung fortwährend einen Bannfluch gegen Liberale, Protestanten, Juden, Freimaurer, Atheisten und Sozialisten aussprach. Dabei scheuten sich beide Parteien nicht, sich gegenseitig öffentlich schwere Vorwürfen zu machen und zu beschimpfen. Der Bischof stachelte die Bürger Roermonds an, Vater Raemaekers‘ Zeitung De Volksvriend nicht zu lesen. Es blieb nichts unversucht, um den Geschäftsbetrieb von Jos Raemaekers unmöglich zu machen.

Der kleine Louis muss zu Hause viel von diesen Auseinandersetzungen mitbekommen haben, war sein Vater doch, wie seine Handlungen und Texte zeigen, ein aufbrausender Mann, der aus seinem Herzen keine Mördergrube machte. Zudem wird er die Enttäuschung über seine sabotierte Kundschaft häufig geäußert haben. Wahrscheinlich sind die kleinstädtischen Streitigkeiten für Louis mit der Anlass dafür gewesen, später sein Heil anderswo in den Niederlanden zu suchen. In Roermond besuchte er öffentliche, also keine katholischen Schulen. Dennoch hat er, wie seine späteren Zeichnungen erkennen lassen, einen soliden katholischen Religionsunterricht gehabt. Möglicherweise war seine Mutter stärker klerikal- katholisch eingestellt – mehr, als ihrem Mann Jos lieb gewesen sein wird – und sie ist vermutlich für diese katholische Erziehung verantwortlich gewesen.

Als Louis dann politischer Zeichner war, zeigte er weder Hass noch Abscheu gegen Deutschland oder den deutschen Kaiser. Er betrachtete Wilhelm II. eher als einen Staatsmann, der das Schiff der deutschen Nation auf Kurs hielt. Während der ersten Tage des Augusts 1914 wandte er sich nur gegen den Krieg und die Grausamkeit der Kriegsführung. Der Ton seiner Zeichnungen war nicht sogleich antideutsch. Aber sobald Deutschland in das neutrale Belgien eingefallen war und Louis Raemaekers von den damit einhergehenden Grausamkeiten, wie standrechtlichen Erschießungen und dem Niederbrennen von Dörfern, gehört hatte, entbrannte in ihm der Zorn. Tief erfüllt von Mitleid mit den Belgiern, mit denen er sich als Südniederländer in hohem Maße kulturell verbunden fühlte, wurden seine Zeichnungen zu einer ständigen Anklage gegen das, was er als die deutsche Gewalt betrachtete.

Einseitig machte er Deutschland und den deutschen Kaiser Wilhelm II. zu hundert Prozent für alle Katastrophen verantwortlich, die der Krieg mit sich brachte. Heutzutage haben wir hier ein differenzierteres Bild, aber er hat mit seinem parteiischen Blick als politischer Zeichner aus den neutralen Niederlanden die Kriegsführung der Alliierten in nicht zu unterschätzender Weise unterstützt und letztlich einen wesentlichen Einfluss auf den Umschlag der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten gehabt. Dort entschloss man sich unter dem Einfluss von Raemaekers‘ stark auf die Emotion einwirkenden politischen Zeichnungen dazu, sich mit vollem Einsatz am Krieg in Europa zu beteiligen. Und das hat zum Ende dieses Krieges beigetragen.

Louis Raemaekers hat, soweit bekannt, den katholischen Glauben nie mehr aktiv ausgeübt. Er heiratete auch ein nicht-katholisches Mädchen. Seine Kinder sind nicht getauft und haben keine spezifisch religiöse Erziehung genossen. Auffällig ist dennoch, dass viele seiner Zeichnungen einen religiösen Hintergrund haben. Ständig stößt man auf christlich, vor allem katholisch, inspirierte Symbole und Abbildungen. Das geschieht auch später, als er mit seinem Stift in den Kampf gegen den Nationalsozialismus und Adolf Hitler zieht. Seine beeindruckendste Zeichnung ist meiner Meinung nach das Bild „Die drei Könige aus dem Morgenland“, das um die Jahreswende 1914-1915 gezeichnet worden sein muss. Für die kämpfenden Deutschen und die Untertanen der österreichischen Monarchie, die zum größten Teil ja Christen waren, muss es schockierend gewesen sein, eine solche Zeichnung zu Gesicht zu bekommen. Auch bei den Alliierten wird diese Karikatur tiefen Eindruck hinterlassen haben. Meine These lautet, dass auf die gleiche Weise und mit dem gleichen Einsatz, wie Vater Jos Unrecht in der katholischen Kirche und von der Kirche verursachtes Leid bekämpfte, Sohn Louis zum Kämpfer gegen Kriegsgewalt wurde, wobei er seine Sympathie ganz und gar Belgien als Opfer der deutschen Aggression schenkte, und selbstverständlich auch Belgiens Bündnispartnern, Frankreich und England.

Anhand des ausgezeichneten Buchs von Ariane de Ranitz über Louis Raemaekers, Met pen en potlood als wapen, (Mit Stift und Feder Als Waffe) und anhand der vielen Zeichnungen und Abbildungen, die ab heute hier zu sehen sind, werden Sie überprüfen können, ob meine Thesen zutreffen.

Zum Schluss noch dies: Das Werk Louis Raemaekers‘ macht deutlich, was mit Propaganda erreicht werden kann. Das ist natürlich ein Phänomen mit einer positiven, aber ebenso gut auch mit einer negativen Seite, vor allen Dingen, wenn die Ausgangspunkte des Propagandisten einseitig sind und bleiben. Auch in der heutigen Zeit sehen wir bei den gegenwärtigen Konflikten in und um Europa, welche Auswirkungen eine ausschließlich einseitig formulierte Propaganda haben kann.

Mr. Hein van der Bruggen
Vorstand der Louis Raemaekers Stiftung Roermond